Rauchende Colts

WYATT EARP UND DOC HOLLIDAY SCHIESSEN WIEDER – PRINT-FEATURE AUS DEM WILDEN WESTEN

Tombstone verdankt seine heutige Existenz dem Vermarktungsgeschick des echten Wyatt Earp. Hätte der die wilde Schießerei vor dem Pferdestall OK Corral nicht aufgeschrieben und publiziert – das frühere Wüstennest Tombstone wäre mit seinen geplünderten Silberminen längst zur Geisterstadt verfallen. Doch es kam anders, die alten Revolverhelden halten die kleine Stadt im Süden Arizonas am Leben. Die Zahl der Waffenfans unter den Einwohnern ist hoch, was wohl kaum jemanden wundert. Doch es gibt auch selbst ernannte Cowboys, die glauben, mit Gewehren und Nachtsichtgeräten das Wüstengebiet nahe der Grenze zu Mexiko bewachen zu müssen.

 

Recherche, Interviews, Text: Corina Niebuhr            Fotos: Charlotte KnotheTS_Colts3

Tagessiegel am Sonntag, Rubrik Die Stadt, veröffentlicht am 22. Oktober 2006 Link zum Artikel

Rauchende Colts

Tombstone wäre längst verlassen, eine Geisterstadt wie viele in Arizona – wenn hier nicht vor 125 Jahren eine wilde Schießerei stattgefunden hätte. Das lockt jedes Jahr 500 000 Touristen an.

Von Corina Niebuhr Wer am Ende wen umgelegt hat, ist nicht ganz klar. Es sind einfach zu viele Personen verwickelt: Wyatt Earp, der so gerne Sheriff geworden wäre, seine Brüder Virgil und Morgan und der schwindsüchtige Spieler und Revolverheld Doc Holliday auf der einen Seite. Ike und Billy Clanton, Frank and Tom McLaury, die sie die Cowboys nennen, auf der anderen. Nur das Resultat ist klar: Am Ende liegen drei der Cowboys tot am Boden. Ike Clanton, unbewaffnet, ist weggerannt. Wyatt Earp ist unverletzt.

Es ist die berühmte Schießerei vom 26. Oktober 1881 vor dem Pferdestall OK Corral im verstaubten Tombstone, einer Kleinstadt im Süden von Arizona. Kaum mehr als eine halbe Minute kann sie gedauert haben, aber die Folgen waren ungeheuer: In 223 Fernseh- und Kinofilmen spielt das Gefecht eine Rolle, im Mittelpunkt oder bloß am Rande, wenn sich verschwitzte Cowboys mit dem Whiskey in der Hand am Saloon-Tresen vom knallharten Burschen Wyatt Earp erzählen. Der hatte schon viele Gesichter: Henry Fonda spielte ihn 1946 in John Fords „Faustrecht der Prärie“, Kurt Russell 1993 in „Tombstone“, Kevin Costner 1994 in „Wyatt Earp“. Und all diese Filme zusammen prägten das Bild vom Wilden Westen.

Tombstone war in den 1880er Jahren die wildeste Boomstadt im Südwesten der USA. Das Silber im Wüstenboden zog Minenarbeiter, Geschäftsleute, Prostituierte, Banditen und Spieler aus der ganzen Welt an. Andere Städte mit Gold- und Silberminen in Texas und Kalifornien hatten gerade ihre Gesetzlosen davongejagt. In Tombstone konnten sie sich wieder amüsieren. Auf damals rund 5000 Einwohner kamen 110 Saloons und etwa 150 Prostituierte. Selbst die „New York Times“ schrieb über die sündigen Nächte im „Bird Cage Theater“ in der Allen Street, die „verruchteste Spelunke der USA“, wo leicht bekleidete Damen Minenarbeiter und Cowboys in kleinen Logen hinter roten Samtvorhängen bedienten, während im Untergeschoss eine Bühnenshow lief und die Gäste beim Poker ihr Geld und auch schon mal ihr Leben verloren. Von den Schießereien zeugen noch heute 140 Löcher in Wänden und Decke. Die Verlierer landeten auf dem „Boothill“-Friedhof, der sich schnell füllte: 300 Tote in sechs Jahren. Fast alle starben einen gewaltsamen Tod.

Heute ist der Geruch von Whiskey, Zigarren und Revolverschüssen im Bird Cage Theater verflogen. Das Haus ist längst Museum, hinter Absperrbändern verstauben dort die alten Pokertische und Theaterstühle. Von den vertäfelten Wänden lösen sich die über 100 Jahre alten Pastellfarben. Den alten Bühnenvorhang gibt es noch: ein himmelblauer Hintergrund mit zwei aufgemalten, zur Seite gerafften Stoffbahnen in Altrosa.

Eine halbe Million Menschen besucht jedes Jahr die Stadt, die mit dem Slogan: „The town too tough to die“ beworben wird. Fast alle der 1500 Einwohner leben vom Tourismus: Sie betreiben Hotels, fahren Kutschen oder schwingen Lassos. Vor den Gaststätten und Bars, die in Tombstone alle „Saloon“ heißen, reihen sich Harleys und Pickup-Trucks wie früher die Pferde. Entlang der breiten Straßen verteilen sich großzügig einstöckige, klimatisierte Häuser, viele noch aus Holz, in hellen Farben mit Schaukelstühlen und Sofas auf den Veranden. Die steinigen Gärten schmücken Kakteen und Mesquite-Büsche, die sich bei Sonnenuntergang wie schwarze Schatten gegen den tiefroten Himmel abheben.

Wer hier lebt, hat es so gewollt. Kaum einer ist in Tombstone geboren. Die Weite, die trockene Hitze, der Sternenhimmel über der Wüste locken die Fremden an. Ben T. Traywick, beleibt, schlohweißes Haar und Schnauzbart, Cowboyschnalle am Gürtel, sitzt im historischen Teil von Tombstone in seinem Buchladen „Red Marie’s“. Die hohen Wände sind mit gerahmten Filmplakaten, Bildern und Fotografien zugepflastert. Viele der Geschichtsbücher in den Regalen hat der 79-jährige Traywick selbst geschrieben. 1968, als er sich „nur mal für einen Nachmittag“ in der Stadt umsehen wollte, spürte er es: „Tombstone platzt vor Geschichte.“ Hier gehörte er hin. Ein paar Tage später gab er in Kalifornien alles auf: den Job als chemischer Ingenieur, die Ranch mit den Orangenbäumen, das Haus mit dem Bach im Vorgarten.

Heute ist Ben T. Traywick Tombstones Vorzeigehistoriker. Den Schusswechsel vor dem OK Corral hat er immer wieder studiert, 38 Jahre lang. Professionell ging er die Sache an und suchte in Zeitungsarchiven, Gerichtsunterlagen und Behördenakten nach Fakten. Ältere Bürger vertrauten ihm Fotos, Briefe und Dokumente an, die sie geerbt hatten – alles Teile für Traywicks großes Puzzle.

George P. Cosmatos, der Regisseur des Kinostreifens „Tombstone“, hat diese Puzzle nicht gekannt, als er Kurt Russell als Wyatt Earp und Val Kilmer als Doc Holliday mit wehenden schwarzen Mänteln die Fremont Street runter in Richtung OK Corral schickte. Nach der Filmpremiere hat Traywick Cosmatos gesagt, was alles nicht stimmt. „Ich bringe meinen Redakteur um“, soll der da gerufen haben. Noch heute zergeht Traywick die Geschichte auf der Zunge: „Er fragte, was stimmt denn nicht? Ich habe einen Haufen Geld für Berater ausgegeben. Und ich sagte: Wo soll ich anfangen, George? Sie haben dich reingelegt.“

Die ganzen Lügen über Tombstone, das Leben im Wilden Westen, die Revolverhelden, es sei unglaublich. Der 79-Jährige lässt sich Zeit beim Reden, lehnt entspannt im Stuhl. Doc Holliday sei so ein Fall. 36 Männer soll er umgebracht haben, zwei waren es tatsächlich. Um das herauszufinden, erforschte Traywick fünf Jahre lang Hollidays Lebensweg. Auf sieben weitere Männer habe der Spieler und Alkoholiker geschossen, die hätten aber überlebt. Einen traf er in den Daumen, einen anderen in den großen Zeh.

Die Menschen aber lieben die Geschichten aufgeblasen und blutig – das sei schon immer so gewesen. Und genau diese Geschichten haben Tombstone gerettet. Ohne die Earps und die Clantons, ohne die Schüsse vor dem OK Corral wäre der Ort sicher zur Geisterstadt geworden wie Vulture in Arizona oder Rhylite in Nevada, wie eine der vielen Minenstädte, in denen heute der Wüstensand durch die zerfallenen Häuser fegt.

Als Ben T. Traywick 1968 in die Stadt kam, war nicht mehr viel vom Western-Flair übrig: In der Allen Street, dem früheren Rotlichtviertel, blinkten in fast allen Schaufenstern Neonlichter. Die mussten als Erstes weg. Dann das Kabelchaos gen Himmel, scheußlich habe das ausgesehen. Als Beweis zückt Traywick eines seiner Bücher. Eine Schwarzweiß-Aufnahme zeigt eine karge, asphaltierte, breite Straße mit geparkten Autos, über die sich zig Telefon- und Stromkabel zwischen den Dächern der schlichten Holzhäuser spannen, von denen der Anstrich abgeplatzt ist.

Seit zwei Jahren ist die Allen Street für Autos gesperrt und der Asphalt unter einer dicken Schicht Wüstensand versteckt. Der wirbelt auf, wenn die alten Postkutschen mit Touristen vorbeirollen. Die Zügel haben Männer mit Cowboyhüten in der Hand, die vom Kutschbock aus per Headset das alte Tombstone erklären. Ihr Singsang schallt mit dem Wind über die Straße. Rechts und links sind die Fassaden der historischen Holzhäuser in kräftigen Farben gestrichen. Die Touristen in Shorts und T-Shirt laufen unter den Vorbauten auf Holzdielen. Über ihren Köpfen baumeln an Ketten befestigt schwere Schilder mit Frakturschrift. Ein Geschäft reiht sich an das nächste: Boutiquen mit Fransenjacken, Läden mit Whiskeyflaschen, Hüten, Indianerschmuck.

Es war Ben T. Traywick, wer sonst, der die erste Show im OK Corral eröffnete. Die Besucher wollten nicht nur Berichte von dem Gefecht hören, sie wollten es auch sehen. Traywick legte sich den Coltgürtel um, ließ seinen Schnäuzer wachsen und nahm sich die Hauptrolle. Wyatt Earp war zurück. Und wenn am nächsten Donnerstag der 125. Jahrestag der Schießerei gefeiert wird, kommt sogar ein echter Nachfahre der Earp-Brüder in die Stadt. Der kann dann vor dem „Crystal Palace Saloon“ Zeuge sein, wie Virgil aus dem Hinterhalt auf offener Straße der Arm mit einem Schuss zerfetzt wird – jedenfalls wird es so aussehen, als ob. Drei Tage lang wird nachgestellt, was an historischen Schießereien auf Tombstones Straßen überliefert ist.

Neben dem OK Corral ist der „Boothill“, der Stiefelhügel, die Attraktion von Tombstone. Dort, auf dem Friedhof am nördlichen Stadtrand, ruhen die Verlierer der OK-Corral-Schießerei Billy Clanton, Frank und Tom McLaury in einer Reihe unter dicken Steinen. Die Erde ist zu hart, um tief zu graben. Auf Holzschildern steht: „Ermordet in den Straßen von Tombstone.“ Der Schusswechsel hatte damals die Einwohner entzweit. Viele hielten die Earps für Mörder. „Wir haben da unsere eigene, ein wenig verrückte Art, damit umzugehen“, sagt Teresa Benjamin, geflochtener Zopf, die Jeans in den Fransenboots. Sie steht in der prallen Sonne zwischen Gräbern und Kakteen und grinst. Die Earps seien hier nur die Republikaner, die Clantons und McLaurys die Demokraten. Aber über Politik möchte die 47-Jährige nicht weiter reden.

Dann schon lieber über die Minen. Ein Erdbeben im nahen Mexiko habe den Erzabbau in Tombstone 1887 gestoppt, weil es den Verlauf des San-Pedro-Flusses änderte und so die Schächte flutete. „Yes, mam, in diesen Hügeln sind noch Tonnen von Silber.“ Teresa Benjamin sagt es laut, fast andächtig und zeigt in die Ferne. Vor sechs Jahren wollte sie eigentlich nur im „Big Nose Kate Saloon“ heiraten, der nach der Freundin von Doc Holliday benannt ist. Tombstone habe sie aber nicht mehr losgelassen, „wie viele hier.“ Die Leute würden das einfache Leben schätzen. Es sei so ruhig, es gebe keinen Konkurrenzkampf, keine Kriminalität. Dafür laufen in Tombstone auffällig viele mit Pistolen am Gürtel herum. „Das ist hier völlig legal.“ Sie lacht, oft sei das doch nur Show, seien die Waffen nicht einmal geladen.

Jim Nibarra würde die Silberminen gerne wieder in Betrieb sehen. „Das wäre sicher gut für Tombstone.“ Der 42-Jährige, gestreiftes Hemd, Jeans, korpulent, steht in Tombstones ältestem Waffengeschäft „G. F. Spangenberg“ hinter einem breiten Verkaufstresen, im Rücken zig Gewehre, in Regalen aufgestellt, der Lauf nach oben. Spangenberg, von einem Deutschen gegründet, ist eines der ältesten Geschäfte der Stadt, hier sollen schon die Earps ihre Pistolen gekauft haben. Vor Jim Nibarra liegen unter Glas die Schmuckstücke des Ladens: Neben Revolvern aus dem 19. Jahrhundert auch Belly-Guns, die so heißen, weil sie gut versteckt werden konnten. Wenn der Spieler sie dann am Pokertisch zog, konnte er sie dem Gegner schnell in den „belly“, den Bauch, drücken.

Auch Jim Nibarra weiß, wie man schießt. Das lernte er schon mit zehn Jahren. Schießen sei ein Sport und der müsse erlaubt sein. Tombstone beweise doch: Waffenbesitz bedeute noch lange nicht Gewalt. Klingt das nicht ein bisschen merkwürdig in einem Ort, der die Erinnerung an seine totgeschossenen Bürger pflegt. Nun, das war gestern, heute habe fast jeder hier eine oder mehrere Schusswaffen zu Hause und die Leute würden damit nur in der Wüste auf Büchsen schießen – vielleicht auch mal auf Kaninchen.

Tombstone, die Wildwest-Stadt, zieht aber auch die anderen an, jene, die sich berufen fühlen, mit geladenen Revolvern nicht nur hinter Kaninchen her zu hetzen. Männer wie Chris Simcox und Jim Gilchrist zum Beispiel, die Anfang 2005 in Tombstone die Minuteman gegründet haben. Die Minuteman kommen aus den ganzen USA immer wieder hierher, um im einsamen Grenzgebiet von Arizona illegale Einwanderer aus Mexiko aufzuspüren. Gern stellen sie sich, ganz die Cowboypose, breitbeinig mit Hut, Weste und gleich zwei Pistolen am Gürtel vor ihre Pickup Trucks, die mit Nachtsichtgeräten, Klappstühlen und Bierdosen beladen sind. Jim Nibarra hält die Minuteman für gefährlich. Er kennt Chris Simcox gut, der für eine Weile im G. F. Spangenberg gearbeitet hat. „Als das anfing, dachte ich sofort, das geht nicht lange gut.“ Ein wenig sei er schon erstaunt, dass es noch keine Toten gegeben habe.

Draußen, die Allen Street runter, bewegt sich die Menge Richtung OK Corral, wo die Show gleich beginnt. Eine halbe Stunde später, nach vielen verrauchten Platzpatronen, klatschen die Zuschauer. Billy Clanton, Frank und Tom McLaury liegen mal wieder reglos im Sand.